Titelbild: In Brunos Weinberg gibt es keine Mauern, sondern eine Koexistenz zwischen den Lebewesen, Wolxheim, Alsace, 2023, Jan Eckert

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Auch wenn ich das Element der Zäsur, wie beispielsweise den Jahreswechsel, in vielen Ausdrucksformen schätze, denke ich doch eher in Kontinuitäten und so knüpft dieser Blogbeitrag an die vergangenen Monate an, die von verschiedenen Texten, Reisen und Menschen geprägt waren. Gleichzeitig ist es ein träumerischer Ausblick (mehr zu diesem Begriff später) auf das, was noch kommen mag oder was wir kommen sehen wollen.

Vernichten

«anéantir» —mit diesem auf den ersten Blick unscheinbaren Wort (eine Wirkung, die durch die Kleinschreibung des Buchtitels in der französischen Ausgabe bei Flammarion noch verstärkt wird) überschreibt Michel Houellebecq seinen nach eigenen Hinweisen letzten Roman. In die jeweilige Muttersprache übertragen, entfaltet er wohl erst seine ganze Tragweite und Kraft für die Lesenden. Ins Deutsche übersetzt heißt anéantir «vernichten».

Der Text begegnete mir vor etwa elf Monaten, und es war wohl die Resonanz auf die weltpolitische und ökologische Situation, die mich veranlasste, das über siebenhundertseitige Werk des umstrittenen Autors zu lesen. Es sollte der Startschuss zu einer mehrwöchigen Lektüre aller mir zur Verfügung stehenden Texte Houllebecqs werden, stets begleitet vom Auf und Ab, von Hoffnung, Dekonstruktion und Resignation seiner Protagonisten.
Von der Hoffnung werde ich im Folgenden noch sprechen, die Resignation hingegen möchte ich nach einer Reihe von Begegnungen in den letzten Monaten vehement in Frage stellen.

«Je ne crois pas qu’il était en notre pouvoir de changer les choses.»

(Houellebecq, 2022, p. 730)

«Ich glaube nicht, dass es in unserer Macht lag die Dinge zu ändern.» (Houellebecq, 2023, p. 616). So lautet der letzte Satz des Protagonisten in anéantir. Verführerisch, wenn man bedenkt, wie bequem es sein kann, zu resignieren und sich in den Schoss des Nihilismus fallen zu lassen. Provokativ, wenn man sich fragt, ob nicht gerade dieser Nihilismus die treibende Kraft ist, die heute am meisten zu den Ungleichgewichten auf unserem Erdball beiträgt.

Dabei ist der Reiz des Loslassens, universell betrachtet, nicht unbedingt fehl am Platz, denkt man beispielsweise an die Glaubensgrundsätze einiger unserer Weltreligionen, die auf der Sehnsucht nach dem Paradies oder der Wiederkehr in Ewigkeiten oder Kreisläufen basieren. Bei letzteren sollten wir uns aber darüber im Klaren sein, dass in der Konsequenz des Loslassens in der nächsten Runde unter Umständen kein Platz mehr für uns und unsere Artgenossen ist (ausser man schafft es unmittelbar ins Nirwana). Wiedergeborenwerden als schwindender Gletscher oder überquellender Ozean—wer möchte das schon?

Plage de la Pointe, Cap Ferret, France, 2023, Jan Eckert

Ein Bild aus einem anderen Roman von Houllebecq drängt sich an dieser Stelle auf. In «Die Möglichkeit einer Insel» (im französischen Original «La possibilité d’une île«) kommt das transhumane Wesen «Daniel 25» am Ende einer langen Reise an einem Meer an, das in der Antiutopie einer von Atomkriegen und Umweltkatastrophen verwüsteten Welt fast verschwunden ist. Das Meer, das er nur aus den Texten seiner Vorgänger kennt, hat sich verändert, wie «Daniel 25» feststellen muss:

«Ce paysage ne ressemblait guère, à vrai dire, à l’océan
tel que l’homme avait pu le connaître ; c’était un chapelet
de mares et d’étangs à l’eau presque immobile, séparés
par des bancs de sable ; tout était baigné d’une lumière
opaline, égale.»

(Houellebecq, 2005, p. 479)


«Diese Landschaft ähnelte im Grunde kaum einem Ozean, wie ihn die Menschen gekannt hatten; es war eine Kette von Tümpeln und Seen mit fast unbeweglichem Wasser, die durch Sandbänke getrennt waren: alles war in gleichmässiges, glitzerndes Licht getaucht.» (Houellebecq, 2005b, p. 438)

Während ich im Blogbeitrag «Active Intuition» meine erste Reise an die Französische Atlantikküste im vergangenen Jahr reflektiere, ist es die zweite Begegnung mit dem Ozean im selben Jahr, die mir das Bild aus der «Möglichkeit einer Insel» vor Augen führte. An einem für September mit etwa sechsunddreissig Grad ungewöhnlich heissen Tag gab es an den meeresseitigen Stränden des Cap Ferret kaum ein Entkommen vor der gleissenden Sonne. An der «plage de la pointe» bot sich eine Szene dar, die unweigerlich an die dystopische Zukunft in Houllebecqs Roman erinnerte—und doch waren wir in der Gegenwart.

Die im Sand versinkenden Schützenbunker aus dem Zweiten Weltkrieg erinnerten an die zerstörerische Vergangenheit des letzten Jahrhunderts. Zugleich schienen sie ein allzu aktuelles Echo des Stellungskrieges zu sein, der wieder in Europa wütet. Im flimmernden Gegenlicht und durch die vom Seewind aufgepeitschte Gischt zeichneten sich ein paar Silhouetten von anderen Strandbesuchenden ab. Auch sie schienen keine Menschen mehr; vielmehr ähnelten sie dem transhumanen Wesen aus Houllebecqs Roman, das am Ende einer langen Reise den Wunsch hat, sich in endgültig die seichten Wogen des Wassers zu legen. In diesem Augenblick verschmolzen Gegenwart und Vergangenheit, Ozean und Himmel, Licht und Schatten, der Mensch mit dem Schattenriss seiner Silhouette. Waren wir etwa schon angekommen im Alptraum der «Möglichkeit einer Insel»?

Geschichte, die mit einer Gegenwart ohne Zukunft verschmilzt

Von einer ähnlichen Verschmelzung erzählt Sylvain Tesson in seinem jüngsten Roman «Blanc» (auf Deutsch 2023 unter dem Titel «Weiß» erschienen). Vier Jahre lang hat Tesson mit dem Bergführer Daniel du Lac und einem unterwegs getroffenen Bergkameraden den europäischen Alpenkamm in vier Etappen von Menton bis Triest auf Tourenski überquert und berichtet Tag für Tag davon.

«Dans la neige, l’eclat abolit la conscience»

(Tesson, 2022, p. 16)

«Der Glanz des Schnees hebt das Bewusstsein auf.» (Tesson, 2023, p. 12). Mit diesem Gedanken, mit diesem Traum, beginnt Tesson die Reise, die bereits am zweiten Tag Albträume aus der Vergangenheit ins Bewusstsein bringt:

«On skiait sur la piste blanche, à 2000 mètres. Casernes et fortins étaient semés comme des reposoirs. Nous passion la revue des ruines noires au milieu des fôrets féeriques. Autrefois, cette arête fut une ligne en feu. On s’y tua ardemment au milieu du XVIIIe siècle puis la Révolution. Bonaparte fit ses armes à l’Authion. On fortifia en 1930 on rempila en 1945. Dans ces sapinières pour reine des neiges, les batailles avaient servi à fixer les frontières d’une nation ou vivaient aujourd’hui des citoyens tranquilles qui n’aimaient pas les frontières.»

(Tesson, 2022, p. 23)

«Wir folgen der weissen Piste auf 2000 Metern Höhe. Kasernen und kleine Festungen wechselten einander ab wie Rastplätze. Wir betrachteten die schwarzen Ruinen inmitten des Märchenwaldes. Dieser Grat war einmal eine Schusslinie gewesen. Mitte des 18. Jahrhunderts und während der Revolution war dort leidenschaftlich getötet worden. Bonaparte hatte sich seine Sporen hier in Authion verdient. 1930 war befestigt, 1945 nachgebessert worden. In diesen Tannenwäldern für Schneköniginnen hatten die Schlachten dazu gedient, die Grenzen einer Nation festzulegen, deren unbescholtene Bürger heute keine Grenzen mochten.» (Tesson, 2023, p. 19)

Skiwanderung auf dem Rücken des Chasseral, Bernerjura, Januar 2023, Jan Eckert

Der Schnee, vielleicht auch der weisse Sand eines Strandes oder einer Wüste scheinen das Bewusstsein aufzuheben. Unweigerlich drängen sich nebst den bereits beschriebenen Szenen jüngere Bilder aus der Presse auf. Orte, die den einen zur Erholung oder Unterhaltung dienen, scheinen dies anderen für ihre Gräueltaten zu tun. Beide auf ihre Weise dem eigenen Bewusstsein entzogen, damals wie heute. Gerade die Juxtaposition beider Perspektiven erscheint in einem historischen Licht besonders pervers.

«Ich glaube nicht, dass es in unserer Macht lag die Dinge zu ändern» könnte man abermals Houellebecq zitieren. Sind nicht viele der Grenzen, mit denen wir heute leben, vor unserer Zeit gezogen worden? Zu nah und zu fern liegen Alptraum und Traum jener Zeiten, lösen sich auf im flimmernden Gegenlicht der Gegenwart. Ein Gegenlicht, das nach einem Gegenentwurf verlangt. Nach einem Entwurf, der die Dinge ins rechte Licht rückt, wie man sagt, und der durch Klarheit wieder Schattenrisse entstehen lässt, die für zukünftige Generationen lesbar werden.

Grenzen

Bevor ich näher auf den Begriff des Entwurfs eingehe, möchte ich noch einen Moment beim Begriff der Grenzen verweilen und anhand einiger Begegnungen der letzten Monate reflektieren, wie diese, ebenfalls mit Licht- und Schattenseiten sowie deren Nuancen spielend, nicht selten notwendig werden in einer globalisierten Gesellschaft, die das Versprechen «grenzenlos zu sein» einzulösen versucht.

Die erste Begegnung ist ein Wiedersehen mit dem Werk des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado. Ich werde wohl nie den Kinobesuch in einem kleinen Saal in Bologna vergessen, in dem ich vor Jahren den Film «Das Salz der Erde» sah, der unter der gemeinsamen Regie von Juliano Ribeiro Salgado, dem Sohn des Fotografen, und dem Deutschen Regisseur Wim Wenders entstanden ist (Wenders, Ribeiro Salgado, 2014).

Auch hier eine Szene aus Licht und Gegenlicht: Salgado spricht zu den Betrachtenden, selbst in einem Kinosaal sitzend, sein Gesicht von den Projektionen seiner Fotografien erhellt. Sie sind sein ganz persönlicher Gegenentwurf zur Welt und ihren Schrecken, die er auf seinen zahlreichen Reportagereisen nicht nur durch die Linse seiner Kamera, sondern am eigenen Leib erfahren hat. Die Folgen dieser Schrecken das Erkranken seines Immunsystems, deren Antipod Salgados Zuwendung zu Themen der Re-Gereration des Planeten und unserer Umwelt zufolge hat.

Themen, die er zusammen mit seiner Frau Lélia Wanick Salgado im eigens gegründeten Instituto Terra konkret angeht und mit denen sich beide mit den Mitteln der Fotografie, Ausstellungen und Publikationen weiter auseinandersetzen. Jüngstes Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist die Ausstellung «Amazonia», die 2023 auch in Zürich Station machte.

Amazonia Ausstellung, Lélia Wanick Salgado und Sebastiao Salgado, Zürich, 2023. Bild: Jan Eckert

Mein erster Eindruck, als ich den Raum mit den präzise ausgeleuchteten Prints betrat, war ein Gefühl von Klarheit. Obwohl sich zwischen dem Schwarz und Weiss von Salgados Fotografien unzählige Grautöne befinden, wirken diese nie zufällig oder vermischt, sondern wie durch Wunderhand ganz klar voneinander getrennt. Das Ergebnis erzeugte für mich eine Erfahrung der Immersion—einerseits ermöglicht durch das grosse Format der Abzüge, andererseits durch die wundersamen Zwischenräume in der Skala von Weiss zu Schwarz, in die man unweigerlich eintauchen möchte.

Die Geschichte, die Leila und Sebastião in «Amazonia» erzählen, ist nicht nur vom einzigartigen Licht des Amazonas-Regenwaldes geprägt. Es sind auch die Grenzen und ihre Überschreitungen, die allgegenwärtig sind. Da sind die Grenzen zwischen Gebirgen, Wäldern, Wasserläufen und dem Himmel; geographische Grenzen, die durch den ständigen natürlichen Wandel bestimmt werden. Gleichzeitig sind es Grenzen, die durch den Menschen immer wieder überschritten werden; Naturschutzgebiete, Lebensräume indigener Völker und Lebensräume für eine Vielzahl anderer Lebewesen, die unter einen wachsenden Anpassungsdruck geraten.

Während Tesson in seinem Reisebericht von den menschengemachten und geschichtlichen Grenzen erzählt, die mancherorts im Konflikt mit dem heutigen Willen der dort Lebenden stehen, erzählt Salgados «Amazonia» von jenen natürlichen Grenzen, die es zu respektieren oder zum Schutz der dort lebenden Bewohnenden aufrechtzuerhalten gilt. Auch sie stehen vermehrt im Konflikt mit den Interessen anderer Personengruppen, die den Lebensmittelpunkt, das Co-Habitat von Indigenen Einwohnenden und ihrer Lebensgrundlage unter Druck setzen.

Der Planetarische Garten

Der Garten «Kepos» war der Lebensmittelpunkt der epikureischen Schule, der Ort des Umgangs mit der Natur, des Lebens von den gemeinsam kultivierten Früchten sowie der Kultivierung des Geistes. Ähnlich den Beispielen früher Paradiesgärten, wie dem von Kyros dem Grossen in Pasargadae im heutigen Iran, sind sie frühe Zeugen eines «Hortus Conclusus», des Gartens, der sich durch seine klare Abgrenzung sowohl physischer als auch philosophischer Art definiert. Nicht umsonst wurde das Bild des Hortus Conclusus in der Ikonographie stark aufgegriffen und die etymologische Herkunft des Begriffes «Garten» durch die Eingrenzung, der «Ummauerung» geprägt.

Genau diese Grenzen scheint der Landschaftsarchitekt und Gärtner Gilles Clément mit seinem Konzept des «Planetarischen Gartens» aufzubrechen. Bei Clément scheint nicht die Idee oder der Mensch im Mittelpunkt des Gartens zu stehen, sondern der Planet. Die Mauern des Hortus scheinen eingerissen, die Grenzen des Gartens und des Gärtnerns aufgelöst. In «Toujours la Vie invente» (leider liegt mir nur die Englische Fassung «Life, Constantly inventive» in «The Planetary Garden and other Writings» von 2015 vor) fasst Clément sein grenzüberschreitendes Konzept wie folgt zusammen:

«Instead of being limited to a small space that we control, from now on the garden is placed within the limits of the biosphere.»

(Clément, 2008, p. 80)


«Anstatt sich auf einen kleinen, von uns kontrollierten Raum zu beschränken, bewegt sich der Garten von nun an innerhalb der Grenzen der Biosphäre» (Übersetzung des Autors). Besonders greifbar wird Cléments Konzept des Planetarischen Gartens in seiner Definition der «Tiers Paysage», der «Dritten Landschaft» (Clément, 2008, S. 83). Ausgehend von einer binären Teilung der Landschaft in forstwirtschaftlich und agrarwirtschaftlich genutzte Zonen definiert Clément auch als Drittes «wilde Zwischenräume». Beispiele dafür findet er an Strassenrändern oder in Brachflächen, die für die Landwirtschaft schwer zugänglich sind. All dies fasst er unter dem Begriff der «Dritten Landschaft» zusammen, die gerade ohne menschliches Zutun zur planetarischen Diversität beiträgt. Bei der näheren Betrachtung von Cléments Auffassung von Diversität tut sich jedoch für mich ein Paradox auf:

«Endemism is Diversity through isolation, a diversity of creatures and of ideas. Geographic isolation and climatic barriers create as many environments where species appear. The more habitats (biotypes) there are, there more species there will be capable of living there and societies capable of developing. The longer the habitants remain isolated from one another, the longer diversity remains. It is expressed through the variety of individuals, behavior and beliefs.»

(Clément, 2008, p. 4)


«Endemismus ist Diversität durch Isolation, eine Diversität von Lebewesen und Ideen. Geographische Isolation und klimatische Barrieren schaffen eine Vielzahl von Lebensräumen, in denen Arten vorkommen. Je mehr Lebensräume (Biotypen) es gibt, desto mehr Arten können dort leben und desto mehr Gesellschaften können sich entwickeln. Je länger die Lebensräume voneinander isoliert bleiben, desto länger bleibt die Vielfalt erhalten. Sie drückt sich in der Vielfalt der Individuen, Verhaltensweisen und Überzeugungen aus.» (Übersetzung des Autors)

Eine Beobachtung, die sich auch in Salgados Auseinandersetzung mit dem Amazonasgebiet wiederfindet; oder bei dem bereits erwähnten Silvain Tesson und seiner in «Pantère des neiges» (Tesson 2019, im Deutschen «Der Schneeleopard», Tesson 2021) beschriebenen Suche nach der gleichnamigen Wildkatze, die es in ihrem begrenzten Habitat aufs Beste versteht, sich mit diesem zu Verschmelzen und vor den Blicken der Suchenden zu isolieren. Der Gegensatz zwischen dem planetarischen Garten und der Erlangung lebensnotwendiger Diversität durch Begrenzung und Isolation führte jedoch bei meiner Begegnung mit Gilles Clément zu vielen Fragen. Diese wiederum führten zu einem anhaltenden Austausch mit meinem ehemaligen Professor und Freund Eberhard Holder in Stuttgart, der auf seinen Reisen eine Vielzahl historischer Gärten besucht hat. Gemeinsam haben wir versucht, die Widersprüche in Cléments Konzept des Planetarischen Gartens aufzulösen und zu verstehen. Über das Ergebnis dieses Austausches möchte ich in diesem Text gerne mehr berichten, zuvor aber noch auf eine dritte Begegnung mit jemandem eingehen, der es auf seine Weise meisterhaft versteht, mit Diversität, ihren Grenzen und deren Auflösung umzugehen.

Der Planetarische Gärtner

Meine erste Begegnung mit Bruno Schloegel fand im Jahr 2022 statt und war völlig unpersönlich im eigentlichen Sinne des Wortes. Auf einer Messe für Naturweine in Göteborg, Schweden, hatte ich das Vergnügen, bei einem dortigen Händler seine elsässischen Weine zu degustieren—Weine, die für sich und Brunos Person sprechen. So sehr, dass mir nach einem ganzen Tag, an dem rund fünf Dutzend Weine verkostet wurden, nur seine in Erinnerung geblieben sind. Im Herbst 2023 ergab sich nach langem Warten die Gelegenheit, Bruno im Elsass zu besuchen und neben seinen Weinen auch ihn, seine Arbeit und sein Terroir kennenzulernen.

Um das gesamte Erlebnis dieses Nachmittages in Wolxheim in Worte zu fassen bräuchte es vermutlich einen weiteren Text. Beginnend mit einer Degustation von Brunos Erzeugnissen oder seinen «Co-Produktionen mit dem Terroir», die aus unterschiedlichen Trauben, Lagen und Jahrgängen stammen, konnten wir ein wenig von den dahinterliegenden Grenzen erahnen, von denen ich hier gerne mehr schreiben möchte.

Co-Produktionen des Terroirs und Lissner Vins d’Alsace, Wolxheim, 2023, Jan Eckert

Die Connaisseurs der Weinkultur unter den Lesenden werden wohl denken «Aber das liegt doch auf der Hand. Je nach Traube, Herkunft oder Jahrgang, schmeckt der Wein eben anders.» Das ist wohl wahr, doch sind es bei Brunos Weinen die aus einer einzigartigen Tiefe stammenden Nuancen, welche die Unterschiede ausmachen. Vielleicht ein wenig, wie die unzähligen Grautöne zwischen dem Schwarz und Weiss von Salgados Fotografien. Es ist plötzlich nicht mehr der Rot- oder Weisswein, früh gekeltert oder gold- oder rubinfarben und durch Mazeration einem weiteren Reifeprozess unterzogen; jedes Mal steckt eine Nuance mehr dahinter. In Verlaines Worten aus seiner «Art Poetique» (Verlaine 1882) könnte man sagen:

«Car nous voulons la Nuance encor,
Pas la Couleur, rien que la nuance!»

(Verlaine, 1882)

«Denn wir wollen nach wie vor die Nuance, Nicht die Farbe, nur die Nuance!» (Übersetzung des Autors). Und welch ein Reichtum an Nuancen breitet sich vor unseren Augen aus, als wir mit Bruno die herbstlichen Weinberge rund um Wolxheim betreten. Unzählige Farbtöne, unzählige Parzellen reihen sich aneinander, scheinen ineinander überzugehen und sind doch auf alemannische Art (ein Teil der elsässischen Kultur) präzise voneinander getrennt. «Meine Parzellen erkennt man an ihrer besonders reifen Farbe», erklärt uns Bruno, «das liegt unter Anderem daran, dass ich die Reben nicht entblättere und ihnen die Möglichkeit gebe, sich bis zur vollen Reife zu entwickeln». Das wiederum hat mit der Artenvielfalt zu tun, die Bruno auf seinen Parzellen zu fördern versucht, indem er auch anderen Pflanzen den Raum zwischen den Reben lässt—wie wir später erfahren sollten.

In diesem Moment begann ich zu verstehen, wie das Paradoxon von Cléments planetarischem Garten vor mir Gestalt annahm. Durch eine Vielzahl von Winzerinnen und Winzern, die, voneinander getrennt, eine Vielzahl von Parzellen bewirtschafteten, schufen sie Vielfalt, sowohl in der Art, die Reben zu kultivieren und mit dem Terroir umzugehen, als auch in den daraus entstehenden Weinen und Geschmäckern. Die Unterschiede hinsichtlich der Biodiversität könnten freilich nicht grösser sein, weshalb mir Brunos klare Linie und kontinuierliche Arbeit besonders imponiert.

Brunos Reben in Wolxheim, Alsace, 2023, Jan Eckert

Als wir uns eine von Brunos Parzellen genauer ansahen, wurde das Zusammenspiel von Abgrenzung und Entgrenzung noch deutlicher. Im Vergleich zu den Nachbarparzellen mit ihren fein säuberlich voneinander getrennten Rebstöcken wachsen Brunos Reben in einer Gemeinsamkeit von Boden, Pflanzen und den unzähligen Tieren, die dort leben—ein Wildwuchs, könnte man meinen. «Vin sauvage—vin vivant» meint dazu Bruno.

«Dans le vignoble de Bruno, li n’y a pas de murs—il ya une coexistence entre les êtres vivants.»

Bei einem Besuch in Wolxheim, 2023

«In Brunos Weinberg gibt es keine Mauern, sondern eine Koexistenz zwischen den Lebewesen.» So habe ich eines der Fotos unterschrieben, die ich bei meinem Besuch in Brunos Weinberg gemacht habe und die Bruno freundlicherweise zum Jahreswechsel auf seiner Website von Lissner Vins d’Alsace (lissner.fr) veröffentlicht hat. Es ist nicht nur die Vielfalt der Lebewesen, die auf Brunos Parzellen zusammenleben, sondern auch die Grenzen, die Bruno mit seiner Vision des biodynamischen Weinbaus durchbrochen hat sowie die Grenzen, die immer noch Teil des komplexen Systems sind. Zum Beispiel die Hecken, die Brunos Parzelle von den Nachbarn und deren Pflanzenschutzmitteln trennen oder die kalten Fallwinde abhalten und so die Reben schützen.
Um all diese Zusammenhänge im Detail zu verstehen, fehlt mir das nötige Fachwissen und ich kann an dieser Stelle nur dazu ermutigen, sich mit Brunos Ausführungen in den zahlreichen Texten (viele davon auf seiner Website) auseinanderzusetzen; oder noch besser: bei einem Besuch selbst zu erleben, wie Brunos Traum vom biodynamischen Weinbau, der auf Koexistenz und Zusammenarbeit mit dem Planeten basiert, Gestalt angenommen hat. Ein Entwurf, ein Traum, der nahezu eineinhalb Jahrzehnte Arbeit an der Re-Generation des Bodens und der Weinberge von Bruno abverlangt hat.

«I define the garden as only territory where man and nature meet, in which dreaming is allowed. It is in this space that man can be in a utopia that is the happiness of his dreams.»

Clément, 2008, p. 82f

Begegnung zwischen Traum, Mensch und Natur

«Ich definiere den Garten als einziges Territorium, in dem sich Mensch und Natur begegnen und in dem das Träumen erlaubt ist. In diesem Raum kann der Mensch in einer Utopie sein, die das Glück seiner Träume verkörpert.» (Übersetzung des Autors). So schreibt Gilles Clément in einem seiner Texte und hier kommt nun der Begriff des Träumens zum Vorschein, den ich in den einleitenden Worten dieses Textes vorweggenommen hatte.

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Skizzenbucheinträge, analog und digital, 2023, Eberhard Holder und Jan Eckert


Wie bereits erwähnt, bedurfte es eines längeren Austauschs, um das Konzept von Clément besser zu verstehen. Ein Austausch, der durch das gemeinsame Versenden von analogen und digitalen Skizzenbucheinträgen stattfand und sich mit Fragen rund um das Planetarische Gärtnern beschäftigte. Mein Freund Eberhard und ich fragten uns zum Beispiel: Braucht es die Grenzen, von denen ich in diesem Text so viel geschrieben habe? Was heisst planetarisch oder weltumspannend? Braucht es dafür eine Art Gemeinschaft, ein Kollektiv oder einen Club, der sich an einem gemeinsamen Bewusstsein orientiert, um den Planetarischen Garten zu pflegen? Braucht es dafür sogar Regeln, eine Art Charta? Interessant sind hier sicherlich die Spannungsfelder, die sich in unserem Dialog rund um den Hortus aufgetan haben. Einige Beispiele:

Ordnung—vs.—Chaos
Planung—vs.—Serendipity
Konsum—vs.—Teilhabe
Selbstverwirklichung—vs.—Selbsterkenntnis
Ego—vs.—Kollektiv
Stolz—vs.—Bescheidenheit
Zeigen/Erleben—vs.—Embodiment*

*Embodiment wird hier benutzt, wie es vom Neurowissenschaftler Francisco J. Varela (Varela et al., 2016) verstanden wird.

Ein Element, über das wir immer wieder zu schreiben begannen, ist das der «Serendipity», des Sich-Einlassens auf das Unerwartete, Ungeplante, Chaotische, Fremdbestimmte. Ein Gegenentwurf zu Houellebecqs Verzicht auf die Möglichkeit, etwas zu verändern; denn bei Serendipity liegt die Veränderung gerade im Offensein, im aktiven Akzeptieren der Veränderung. Als «Aktive Intuition» habe ich dies im vorigen Blogeintrag zu beschreiben versucht, als Gegenentwurf zu dem von Karl Johan Friston geprägten Begriff der «Aktiven Inferenz» (Parr, Pezzulo & Friston, 2022) , der das permanente Antizipieren und Abwägen möglicher Zukünfte beschreibt.

So entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem planerischen Entwurf der Umwelt und dem Akzeptieren dessen, was sich aus der Kooperation mit anderen Kräften entwickeln kann. «Vin sauvage—vin vivant» würde Bruno Schloegel vielleicht diesen Spannungsraum beschreiben, der sich aus seiner Co-Kreation mit dem Terroir ergibt. Nach langem Nachdenken und weiterem Austausch fanden Eberhard und ich ein weiteres Zitat von Gilles Clément, das diesen Spannungsraum im Kontext des Planetarischen Gartens treffend in Worte fasst:

«At the heart of the garden, the uncontrolled forces of life and its inventions, the dream of man and his utopias, both defining from one day to the next the unpredictable trajectory of evolution.»

(Clément, 2008, p.33)


«Im Herzen des Gartens stehen die unkontrollierten Kräfte des Lebens und seine Erfindungen, der Traum des Menschen und seine Utopien, die beide von einem Tag auf den anderen die unvorhersehbare Bahn der Evolution bestimmen.» (Übersetzung des Autors). Beides hat in dieser Definition seinen Stellenwert, der Traum des Menschen ebenso wie die Eigenständigkeit der Natur. In diesem Spannungsfeld entstehen Gestaltungsräume für die oben angesprochenen Gegenentwürfe, von denen unsere heutige Welt vermutlich nur profitieren kann.

Entwurf und Hoffnung

Aus neurowissenschaftlicher, kultureller oder spiritueller Sicht kann der Begriff des Träumens unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Man kann davon ausgehen, dass der Traum von Gilles Clément keine dieser Facetten ausklammert. Im Folgenden möchte ich eine dieser Facetten herausgreifen und näher beleuchten. Der Traum als Projektion, als Entwurf der Zukunft, oder wie Otto Scharmer es in seiner am MIT etablierten Theory-U beschreibt: «Learning from Emerging Futures» (Scharmer, 2018).

Der in Lateinamerika lebende deutsche Designer und Designtheoretiker Gui Bonsiepe reflektiert in seinem Essay «Demokratie und Gestaltung» (Bonsiepe, 2009, S. 15 ff.) die Perspektive der Erkennbarkeit bestimmter Wissenschaften und stellt sie der Perspektive der Entwerfbarkeit der Entwurfswissenschaften gegenüber—zwei Perspektiven, die sich, wie er feststellt, idealerweise ergänzen würden. Insgesamt beleuchtet Bonsiepe in dem entsprechenden Kompendium «Entwurfskultur und Gesellschaft» (Bonsiepe, 2009) die ontologische Perspektive des Entwerfens. Eine Perspektive, die auch Beatriz Colomina und Mark Wigley in ihrem Buch «are we human? notes on an archology of design» (Colomina & Wiley, 2021) anhand einer Analyse der Menschheitsgeschichte und des Designs untersuchen.

«We live in a time when everything is designed, from our carefully crafted individual looks and online identities to the surrounding galaxies of personal devices, new materials, interfaces, networks, systems, infrastructure, data, chemicals, organisms, and genetic codes»

(Colomina & Wiley, 2021, p.9)


«Wir leben in einer Zeit, in der alles entworfen wird, von unserem sorgfältig gestalteten individuellen Aussehen und unserer Online-Identität bis hin zu den uns umgebenden Galaxien persönlicher Geräte, neuer Materialien, Schnittstellen, Netzwerke, Netzwerken, Systemen, Infrastrukturen, Daten, Chemikalien, Organismen und genetischen Codes.» (Übersetzung des Autors)

«All das ist Design—oder treffender: All das ist Entwurf» würde Bonsiepe entgegnen (Bonsiepe, 2009, p. 210). So wie er es in seinem Essay «Entwurf und Entwurfsforschung—Differenz und Affinität» tut, wenn er Hal Fosters Beobachtung kommentiert, dass Design alles von umfasst: «from jeans to genes»—«von Jeans bis zu den Genen» (Foster, 2002, p. 17). Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass das Entwerfen in der Natur liegt, und wenn man die Perspektive von Clément hinzunimmt, ist es eine Perspektive, die nicht nur in der Natur des Menschen liegt, sondern universell zu sein scheint.

Es gibt einen weiteren Text von Gui Bonsiepe, der diese Perspektive aufgreift. Genauer gesagt ist es eine seiner Übersetzungen der Texte von Tomás Maldonado, dem letzten Rektor der Hochschule für Gestaltung in Ulm und vermutlich einem der am meisten unterschätzten Designtheoretikern im deutschsprachigen Raum. Es handelt sich um die Deutsche Übersetzung von Maldonados «Speranza Progettuale», die Bonsiepe 1972, zwei Jahre nach deren Italienischer Originalfassung, mit dem Titel «Umwelt und Revolte: zur Dialektik des Entwerfens im Spätkapitalismus» publiziert.

Bevor ich näher auf diesen Text zu sprechen komme, gilt es jedoch die Nuancen des Begriffs «Entwerfen» besser zu verstehen. Hierbei kann es hilfreich sein, einen Umweg über das italienische Pendant, «progettare», zu machen. Wörtlich übersetzt bedeutet es «gettare avanti» oder: sich selbst, eine Situation oder einen Zustand in die Zukunft projizieren, um sie mitzugestalten oder zu verändern. Und liegt nicht hier eine interessante Parallele zum Element des Traumes in Gilles Cléments Planetarischem Garten?

Doch zurück zu Maldonados «Speranza Progettuale». Es ist ein Text, der sein enormes Potential immer mehr entfaltet, je mehr unsere sozio-öko-ökonomischen Systeme an ihre sogenannten «tipping points» kommen und je konkreter das Ausmass dieser Kipppunkte wird, desto mehr entfalten sich unabsehbare Folgen für unser schrumpfendes Habitat. Während dies vor allem im siebten Kapitel der von Bonsiepe übersetzten deutschen Ausgabe der «Speranza Progettuale» diskutiert wird, ist der Kern des vielschichtigen Textes der Akt des Entwerfens (progettare) als optimistische Alternative zum sozialen, politischen und ökologischen Nihilismus. Und wenn wir uns einig sind, dass der Nihilismus eine der treibenden Kräfte ist, die zu unserer Auslöschung führen können, wie ich es in diesem Text bereits geschrieben habe, dann erhält der Begriff «Hoffnung» (italienisch: speranza) im Akt des Entwerfens, wie ihn Maldonado als Gegenmodell vorschlägt, seine volle Bedeutung.
Ein Text also, der aktueller nicht sein könnte. Und während eine von Raimonda Riccini und Medardo Chiapponi kuratierte Neuauflage der Italienischen Originalfassung der «Speranza Progettuale» 2022 bei Feltrinelli erschienen ist, ist die Deutsche Übersetzung aktuell vergriffen und die deutschsprachige Leserschaft wartet seit langem auf ihre Wiederkehr.

Wenn wir nun den Begriff des Entwerfens und der Hoffnung noch einmal in den Kontext des Planetarischen Gartens stellen, gewinnt der «Traum» oder das «Träumen» eine neue Bedeutung und vielleicht wird auch klarer, was ich in den vorangegangenen Abschnitten mit «Gegenentwurf» zu den derzeit vielerorts präsenten vernichtenden, nihilistischen oder konturlosen Entwürfen des Menschen in seinem Verhältnis zu sich selbst, zu seinen Mitbewohnenden und zu unserem gemeinsamen Lebensraum gemeint habe. Doch wie könnte ein solcher Gegenentwurf lauten?

«(…) a mental territory for optimism; a garden.»

(Clément, 2008, p.112)

Hortopia

Hortopia—so haben wir diesen Entwurf im Austausch mit Eberhard für den Moment genannt. Der Garten im weitesten Sinne, ein geistiger wie physischer Ort für Träume und Entwürfe, um die weitgehend unvorhersehbaren Bahnen der Evolution in eine optimistische Zukunft zu lenken.
«(…) ein geistiges Terrain für Optimismus; ein Garten» (Übersetzung des Autors) So beschreibt es auch Gilles Clément (Clément, 2008, p.112), und während in seinem Zitat vielleicht die Nuance eines Zufluchtsortes mitschwingt, so soll «Hortopia» ein Ort des Aufbruchs sein. Vom Aufbrechen von Grenzen, vom Aufbruch in ungewisse Territorien oder Zukünfte habe ich in diesem Text geschrieben, indem ich Salgados, Tessons oder auch Houellebecqs Arbeiten reflektiert habe. Der konkrete Aufbruch, die Zukunft mitzugestalten, wird für mich am deutlichsten, wenn ich mir noch einmal Bruno Schloegels Traum und seine Umsetzung des biodynamischen Weinbaus in Wolxheim vor Augen führe. In seiner Arbeit wird für mich nicht nur Hortopia konkret, sondern auch Maldonados Aufruf zum optimistischen Handeln.

«Dieses Mal ist es wirklich das letzte Mal», versichert Hans Ulrich Obrist, bevor er die letzte Frage seines Interviews mit Tomás Maldonado aus dem Jahr 2006 formuliert. Ursprünglich von Stefano Boeri, dem damaligen Chefredakteur von Domus, in Auftrag gegeben, haben Maldonado und Obrist den Text 2009, nach Boeris Weggang von Domus, erneut aufgenommen und das Interview ist 2010 unter dem Titel «Tomás Maldonado—Arte e artefatti—Interivsta di Hans Ulrich Obrist» bei Feltrinelli erschienen. Die letzte Frage von Hans Ulrich Obrist in dem Interview, das vierzig Jahre nach der Erstausgabe von Maldonados «Speranza Progettuale» und achtzehn Jahre vor seinem Tod geführt wurde, lautet, inwieweit Maldonado seine These von der Hoffnung, die sich aus einer Entwerfbarkeit unserer Welt ergibt, noch unterschreiben würde.

Maldonado verneint dies und erklärt, dass sowohl die Ausweitung des Entwurfsbegriffs auf eine Vielzahl von Bedeutungen als auch ein «Prinzip Hoffnung», wie es der deutsche Philosoph Ernst Bloch formuliert hat, nicht ausreichen, um der immer komplexer werdenden Welt zu begegnen, die eine proaktivere Haltung erfordert. Als Alternative zum «Prinzip Hoffnung» schlägt Maldonado ein transformatives Handeln durch Positivität vor, das zum einen eine ständige «Beobachtung auf der Grundlage eines kritischen Geistes» erfordert (Maldonado, Obrist, 2010). Zum anderen zitiert Maldonado zu diesem Zweck den italienischen Liedermacher Lorenzo Cherubini, auch bekannt als «Jovanotti», indem er den Bereich der Gestaltbarkeit unserer Welt auf eine Ebene verschiebt, die auf den ersten Blick banal erscheinen mag—Positivität und der Akt des Entwerfens, der in der Tatsache des Lebendigseins verwurzelt ist:

«Io penso positivo perché son’ vivo – perché son’ vivo»

Jovanotti (1993)

Dies ist nun wirklich der letzte Abschnitt—und an dieser Stelle ein Dank an alle, die bis hierher gelesen haben. Mit dem Dank verbunden ist der (Neujahrs-)Wunsch, in dieser Zeit der von gleissendem Gegenlicht unscharf ins Auge der Gegenwart stechenden Schattenrissen einer ungewissen Zukunft, nicht nur die eigene Lebendigkeit durch gelebten Optimismus nähren zu können, sondern auch entsprechende Territorien zum Träumen im Sinne von «Hortopia» zu entdecken und vielleicht sogar den einen oder anderen transformativen Gegenentwurf zu erträumen.

Sonnenstrahlen auf der ersten Schneedecke des Jahres, Bernerjura, 2024, Jan Eckert

Bibliografie

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