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Hortopia II —Qualitäten des Träumens

Bild oben: Detail aus dem Oudolf Garten auf dem Vitra Campus, Weil am Rhein, Jan Eckert, 2023

«Im Zentrum des Gartens stehen die unkontrollierten Kräfte des Lebens und seiner Erfindungen, der Traum des Menschen und seine Utopien, die beide von einem Tag auf den anderen den unvorhersehbaren Lauf der Evolution bestimmen»

Clément, 1999; Clément et al. 2015, S. 33

Das Zitat des französischen Landschaftsarchitekten Gilles Clément zum Thema des «Planetarischen Gartens» wurde zu einem zentralen Ausgangspunkt bei der Exploration und Formulierung des Hortopia-Konzeptes, wie im Blogbeitrag «Hortopia I» nachzulesen ist. (Eckert, 2024). Insbesondere der physische Ort und sein geistiges Pendant spielten dabei eine wesentliche Rolle. Ein Unterschied, der sich bei den ersten Überlegungen zu Hortopia im Vergleich zum historischen «hortus conclusus» (Cluitmans, 2021, S. 90) herauskristallisierte, war die Tatsache, dass der hortus conclusus in der Regel ein umfriedetes Stück Land bezeichnete, das in erster Linie dem Menschen und seinen Bedürfnissen dienen sollte. Inspiriert von Gilles Cléments «Jardin Planétaire» (Clément, 1999; Clément et al., 2015) durchbricht Hortopia diese Mauern und erweitert den Garten um eine planetarische Dimension. So steht der Hortus nicht nur im Dienst der Menschheit, sondern die Menschheit übernimmt Verantwortung für den Planeten. Denn: Was an einer Stelle des Planeten geschieht, kann Auswirkungen auf der anderen Seite des Erdballs haben (Clément, 2008; Clément et al. 2015, S. 79f).

Nebst dieser Verantwortung hat in Hortopia ein weiterer Aspekt eine wichtige Rolle: das Loslassen der vermeintlichen Kontrolle des Menschen über die Natur. Wie das obige Zitat von Gilles Clément bereits andeutet, unterschätzen wir allzu oft die evolutionären Kräfte der Natur, denen unser Handeln und Denken, ja unsere gesamte Existenz unterworfen ist. Hortopia respektiert und integriert diese Kräfte und versucht so, Raum für koevolutionäre Prozesse zwischen Mensch und Planet zu schaffen.
Ein Element, das in diesem Zusammenhang relevant erscheint, ist der von Clément erwähnte Traum. Gerade das Spannungsverhältnis zwischen den evolutionären Kräften der Natur und den Träumen des Menschen birgt ein höchst kreatives und zugleich destruktives Potenzial: ein Konflikt, der aktueller nicht sein könnte, wie die viel diskutierte Polykrise unseres Ökosystems zeigt. Ausgehend von dieser Vorüberlegung widmet sich dieser Blogeintrag dem Aspekt des Träumens und den verschiedenen Qualitäten, die das Träumen im Kontext von Hortopia annehmen kann.

Qualitäten des Träumens

Die Bedeutung des Träumens für die Verbindung zwischen dem Bedürfnis der Menschen, mit der Natur zu interagieren, und dem Garten als einem Raum, der dieses Bedürfnis erfüllen kann, wird in den beiden Texten von Clément, «Jardin Planétaire» (Clément, 1999; Clément et al., 2015) S. 33) und «Toujours la vie invente: réflexions d’un écologiste humaniste» (Clément, 2008; Clément et al. 2015, S. 82), hervorgehoben. Um einer genaueren Definition des Konzepts von Hortopia näher zu kommen, gilt es daher das Element des Träumens und seine unterschiedlichen Qualitäten näher zu betrachten.

In einem der frühesten Texte über Träume, der Oneirocritica (Daldianus, 1864, 2011, 2020), untersucht der kaiserliche Traumdeuter Artemidor von Daldis (2. Jh. n. Chr.) die Verbindung zwischen der menschlichen Psyche und höheren Ebenen der menschlichen Realität. Er unterscheidet dabei zwischen zwei Arten von Träumen, Enhypmia und Oneiroi. Enhypmia beschreibt er als Träume, die durch körperlichen oder emotionalen Stress, Ängste, Sehnsüchte oder ungelöste Situationen verursacht werden. Oeniroi hingegen beschreibt er als Träume, die in eine transzendentale Traumwelt führen, die dem Menschen Informationen über das Unbekannte oder die Zukunft geben können.

Die Traumwelt, der Traum und seine Verbindung zum Unbewussten sind seit der Antike ein historisches Thema. Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Medard Boss, Gaston Bachelard, Michel Foucault und zujüngst Nastassja Michel sind in diesem Zusammenhang nur einige Personen, die massgeblich zur modernen Diskussion über den Traum beigetragen haben. Ohne den Anspruch auf einen vollständigen historischen Abriss zu erheben, sollen im Folgenden einige Eckpfeiler der Traumliteratur der Moderne erwähnt werden, um dann von Michel Foucaults kulturgeschichtlicher Betrachtung den Bogen zu Nastassja Michels jüngster Publikation in diesem Kontext zu schlagen.

Sigmund Freud revolutionierte mit seinem Werk «Die Traumdeutung» (Freud, 1900) die Sichtweise auf Träume in der westlichen Welt der Moderne. Für Freud waren Träume der «Königsweg zum Unbewussten». Ähnlich wie die Enhypmia des Artemidor betrachtete er sie als verschlüsselte Botschaften unseres Unterbewusstseins, die unsere verdrängten Wünsche, Ängste und Konflikte widerspiegeln. Darauf aufbauend entwickelte Freud eine komplexe Methode der Traumdeutung, bei der er zwischen dem manifesten Trauminhalt (dem, was wir zu träumen erinnern) und dem latenten Traumgedanken (der eigentlichen, verborgenen Bedeutung) unterschied.

Carl Gustav Jung, der als Schüler Freuds eine eigenständige Theorie entwickelte, erweiterte das Verständnis von Träumen zu Botschaften des kollektiven Unbewussten und führte den Begriff der «Archetypen des kollektiven Unbewussten» (Jung, 1933-55) in die Traumdeutung ein. Stark beeinflusst von Heideggers Existenzphilosophie entwickelte der Schweizer Psychoanalytiker Medard Boss als Mitarbeiter in Jungs Arbeitsgruppe darüber hinaus die Daseinsanalyse (Boss, 1979). Diese verlässt gewissermassen die Tiefen des Unbewussten und verortet den Menschen im «In-der-Welt-Sein». Träume werden dabei als unmittelbaren Ausdruck dieses Seins interpretiert, wobei sie nicht als verschlüsselte Botschaften des Unbewussten, sondern als unmittelbare Manifestationen unserer existentiellen Situation und unseres Verhältnisses zur Welt verstanden werden.

In der französischen Tradition haben Denker wie Gaston Bachelard den Zusammenhang zwischen Träumen, Imagination und Kreativität untersucht, indem sie einen philosophischen Zugang zum Traum erschliessen. Bachelards Werk “La Poétique de la Rêverie” (Bachelard, 1960) ist ein wichtiger Beitrag zu dieser philosophischen Reflexion, indem er die Tagträumerei als schöpferischen Akt betrachtet, der unsere Wahrnehmung der Welt erweitert und vertieft. Beispielsweise beschreibt Bachelard, wie die Betrachtung einer einfachen Blume in einem Moment der Träumerei zu einer kosmischen Erfahrung werden kann: Die Blume wird zum Zentrum eines ganzen Universums, in dem sich Mikrokosmos und Makrokosmos spiegeln. Diese Art der poetischen Träumerei, so Bachelard, ermöglicht es uns, eine tiefere Verbindung zur Welt und zu uns selbst herzustellen und öffnet neue Dimensionen des Erlebens und Verstehens.

Michel Foucault hingegen näherte sich dem Thema Traum aus einer anderen Perspektive. In seinem frühen Werk «Binswanger et l’analyse existentielle» (Foucault, 1954) und später in «Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines» (Deutsch: Die Ordnung der Dinge) (Foucault, 1966) betrachtete Foucault Träume im Kontext der Wissens- und Diskursgeschichte. Für ihn waren Träume nicht nur individuelle psychologische Phänomene, sondern auch Ausdruck kultureller und historischer Strukturen.Er sah in der Traumdeutung eine Form der Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung, die eng mit den jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Machtstrukturen verwoben ist.

In jüngerer Zeit knüpft die französische Anthropologin Nastassja Martin an diese kulturgeschichtliche Betrachtung der Träume an. In ihrem Buch «Im Osten der Träume» (Martin, 2024) greift sie den Traumdiskurs auf und erweitert ihn um eine ethnographische Perspektive. Im Zusammenhang mit ihrer Forschung über die indigenen «Even» Kamtschatkas unterscheidet Martin zwei Arten des Träumens, die an Artemidor’ Konzepte erinnern: die «projektiven» und die «performativen» oder «animistischen» Träume (Martin, 2024, S. 161f). Die projektiven Träume ähneln dem Verständnis der Enhypmia und spiegeln persönliche Erfahrungen und Ängste wider. Im Gegensatz dazu werden performative oder animistische Träume als reale Erfahrungen in einer anderen Dimension betrachtet, die direkte Auswirkungen auf die Realität haben können.

In einer Episode, in der Martin mit Darja, einer Even-Frau, über das Träumen spricht, sagt Darja über Nastassja Martins Traum: «Du bist nirgendwo hingegangen, du hast niemanden getroffen» (in deinen Träumen) (Martin, 2024, S.162) und verweist damit auf die sogenannten Begegnungsträume, die bei indigenen Völkern oft als Träume beschrieben werden, in denen Menschen Tieren begegnen, die ihnen Hinweise für eine erfolgreiche Jagd geben (Martin, 2024, S.164). Während ihrer Zeit bei den Even stellte Martin fest, dass wir, die wir in einer westlich geprägten Welt aufgewachsen sind, offensichtlich vergessen haben, wie man eine solche performative Art des Träumens mit Zugang zum Unbewussten kultiviert. Es braucht Zeit, Umlernen und Anstrengung, um uns wieder mit der Weisheit und den Fähigkeiten unserer Vorfahren vertraut zu machen.

Vom Traum zum Garten zum Träumen

Die gesamten Überlegungen zur Traumdeutung und -forschung in die weitere Formulierung von Hortopia einfliessen zu lassen würde ganz offensichtlich den Rahmen des Konzepts sprengen. Dennoch kommt dem Traum, ausgehend von Gilles Cléments Überlegungen zum planetarischen Garten, eine besondere Bedeutung in der Beziehung zwischen Mensch und Planet zu. Eine Bedeutung, die gerade im Kontext der sich entfaltenden ökologischen Krise zwei Deutungen annehmen kann: der Traum als Auslöser der menschengemachten Probleme des sogenannten Anthropozäns und der Traum als Ausgangspunkt für die Gestaltung einer neuen, harmonischeren Zukunft von Mensch und Planet—Hortopia. Ich möchte daher noch einmal einige Aspekte zu den Qualitäten des Traums hervorheben und einen ersten Versuch unternehmen, diese in das Konzept von Hortopia und seiner Gestaltbarkeit zu übersetzen.

Aus den Gedanken von Boss über Träume als Ausdruck des “In-der-Welt-Seins” und den Überlegungen von Artemidor und Martin über die Qualitäten des performativen Träumens sowie der poetischen Dimension, wie sie von Gaston Bachelard beschrieben wird, lässt sich für Hortopia zunächst Folgendes ableiten: Träume können sowohl Ausdruck unseres Seins sein als auch in zukünftigen Versionen dieses Seins zum Ausdruck kommen, und darüber hinaus können diese Manifestationen des Seins zu weiteren Träumen anregen. Hortopia kann sich also in Orten spiegeln, die einerseits die visionäre Gestaltungskraft der Träume der Menschen zu bündeln und andererseits die «aktive Traumarbeit» im Sinne der Oneiroi, des performativen Träumens oder der poetischen Kontemplation im Sinne Bachelards zu fördern vermögen.

Dies kann in verschiedene Richtungen gehen: Wenn wir einen Ort im Sinne von Hortopia gestalten, kann er unsere Träume, Visionen und «Hortopien» verkörpern, seien es individuelle Träume im individuellen Garten oder kollektive Träume im planetarischen Sinne. Gleichzeitig kann der Garten das Träumen aktiv fördern, indem Hortopia eine bewusst gestaltete Traumlandschaft ist, die zu kontemplativen Momenten und aktiver Traumarbeit anregt. Ein Blick in die Geschichte der Gärten zeigt zahlreiche Beispiele für beide Dynamiken, von den persischen Pasargadae (Olonetzky, 2017, S.28f) über die Kultur der Zen-Gärten (Nitschke, 2003) bis hin zu zeitgenössischen urbanen Gärten und Gartenlandschaften wie die von Piet Oudolf (Stappmanns & Kries, 2023, S.144).

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sowohl das Träumen selbst unterschiedliche Qualitäten annimmt, als auch Hortopia auf unterschiedliche Weise mit den Träumen der Menschen in Verbindung gebracht werden kann. Überträgt man diesen Gedanken nun in ein Gestaltungsprinzip von Hortopia, so könnte ein Projekt, das sich an Hortopia orientiert, stets einen der beiden genannten Aspekte verkörpern:

Manifestation von Träumen: Hortopia als Verkörperung individueller oder kollektiver Träume und Visionen. Hierbei wird der Garten zum physischen Ausdruck unserer inneren Landschaften, unserer Hoffnungen, Sehnsüchte oder sich abzeichnender Zukünfte (Scharmer, 2018). Diese Gärten können gewissermassen als geträumte Räume oder «Landebahnen» für Zukunftsträume (Scharmer, 2018) verstanden werden.

Katalysator des Träumens: Hortopia als bewusst gestalteter Raum, der zum aktiven Träumen und zur Kontemplation anregt. Diese Gärten laden dazu ein, in einen Zustand der Kontemplation und des poetischen oder performativen Träumens einzutreten, in dem die Grenzen zwischen dem «In-der-Welt-Sein» nach Boss und der animistischen Traumwelt, wie sie Martin beschreibt verschwimmen dürfen.

In der praktischen Umsetzung kann dies bedeuten, dass Hortopia-Projekte sowohl Elemente enthalten, die konkrete Visionen und Träume verkörpern, als auch bewusst gestaltete Räume für Kontemplation und Traumarbeit. Darüber hinaus eröffnet diese Doppelseitigkeit von Hortopia als Manifestation und Katalysator von Träumen eine Vielfalt von Möglichkeiten für die Nutzung solcher Räume.

Zusammen mit dem evolutionären Charakter und dem Kontrollverlust des Menschen über die Natur eröffnen sich in Hortopia Räume, in denen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Mensch und Natur, zwischen Individuum und Kollektiv fliessend werden. Die transformative Kraft des Traums eröffnet dabei eine Vielzahl von Traumqualitäten, die gestalterisch ausgelotet, manifestiert und erfahren werden können.

Bibliografie

Bachelard, G. (2005). La poétique de la rêverie (6. éd). Presses Univ. de France.

Boss, M. (1979). Von der Psychoanalyse zur Daseinsanalyse: Wege zu einem neuen Selbstverständnis. Europaverlag.

Clément, G. (1999). Le jardin planétaire: Réconcilier l’homme et la nature. A. Michel.


Clément, G. (2008). Toujours la vie invente: Réflexions d’un écologiste humaniste. Éditions de l’Aube.

Clément, G., Morris, S., Tiberghien, G. A. (2015). The planetary garden: And other writings. University of Pennsylvania Press.

Cluitmans, L., Barnas, M., Bruce, J., Cluitmans, L., Heilbron, T., Helmus, L. M., Jong, E. de, Kam, R. de, Katsof, A., Kincaid, J., Rutten, B., Sandilands, C., van der Burgt, P., & Centraal Museum Utrecht. (2021). On the necessity of gardening: An ABC of art, botany and cultivation [Graphic]. Valiz.

Daldianus, A. (with Pack, R. A.). (2011). Artemidori Daldiani Onirocriticon libri V. De Gruyter.

Eckert, Jan. (2024, Januar 6). Hortopia I [Janeckert.ch]. Hortopia I. https://janeckert.ch/blog/hortopia-i/

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Freud, S. (1989). Die Traumdeutung. S. Fischer.

Jung, C. G., Jung-Merker, L., & Rüf, E. (2021). Die Archetypen und das kollektive Unbewußte (Sonderausgabe 9. Auflage). Patmos Verlag.

Martin, N. (2024). Im Osten der Träume: Antworten der Even auf die systemischen Krisen (C. Kalscheuer, Übers.; Erste Auflage). Matthes & Seitz Berlin.

Nitschke, G. (2003). Japanese gardens: Right angle and natural form. Taschen.

Olonetzky, N. (2017). Inspirations: Time travel through garden history (L. Rosenblatt & E. Schwaiger, Übers.; Completely revised and comprehensively expanded new edition). Birkhäuser.

Scharmer, C. O. (2018). The essentials of Theory U: Core principles and applications (First edition). BK, Berrett-Koehler Publishers, Inc., a BK Business book.

Stappmanns, V., Kries, M., Vitra Design Museum, Wüstenrot Stiftung, Designmuseo, & Museum Vandalorum (Hrsg.). (2023). Garden futures: Designing with nature (Erstauflage). Vitra Design Museum.

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